Samstag, 3. Juli 2010

Armut im reichen Deutschland

Hilfe für die Armen
Der blinde Fleck – oder: Wie ein Problem entsorgt wird

Von Wolfgang Kessler, Bettina Röder, Wolf Südbeck-Baur und Andrea Teupke

Arm«, sagt Christian Herwartz, »arm sind doch nur unsere kalten Herzen, die den anderen nicht mehr sehen.« Der hochgewachsene Mann mit dem Vollbart hat sich zurückgelehnt, seine blauen Augen fest auf sein Gegenüber gerichtet. Im Leben des Jesuiten Herwartz sind solche Sätze keine Lyrik, sondern Wirklichkeit: In seiner Wohngemeinschaft in Berlin-Kreuzberg teilt er Zeit und Kraft mit denen, die an der Tür klingeln, weil sie ein Dach über dem Kopf brauchen, ein Bett, Essen und Gemeinschaft. Manche wollten nur eine Nacht bleiben, und dann wurden zehn Jahre daraus, sagt Herwartz. Ihm ist das recht: »Reichtum erfährt man in der Begegnung, im Teilen von Leben.«

Leben teilen? Die meisten Menschen stellen sich unter Reichtum etwas anderes vor. Und je weiter die Armut um sich greift, desto stärker werden die Abwehrreflexe. In der ehemals »nivellierten Mittelschichtgesellschaft« Deutschlands ebenso wie in der Schweiz sind die Milieus zunehmend bemüht, sich abzuschotten. Als wäre Armut eine ansteckende Krankheit. Als würde das Problem verschwinden, wenn man nur entschlossen genug die Augen zukneift. Doch es verschwindet nicht.

Im Gegenteil. 2007 lebten in Deutschland schon 12 Millionen Menschen, darunter drei Millionen Kinder und Jugendliche, in Armut; und in der Schweiz sind immerhin zehn Prozent der Einwohner von Armut betroffen, rund 700 000 Personen. Dennoch wird die Armut »beschönigt, relativiert und ideologisch entsorgt«, wie der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge formuliert.

Beschönigen: Das geht am besten mit dem Hinweis auf ferne Länder. Haiti zum Beispiel. Da hungern Menschen, da müssen sie von weniger als einem Dollar am Tag leben. Aber hierzulande?

Ist arm, wer in einem reichen Land wie Deutschland oder der Schweiz weniger als sechzig Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung hat? Wer dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen ist, fühlt sich als Mensch zweiter Klasse. Eltern schämen sich, wenn ihre Kinder abgetragene Klamotten tragen oder an der Klassenfahrt oder Schulreise nicht teilnehmen können. »Ich erlebe oft trostlose Gesichter, die zerfurcht und traurig sind. Gerade Langzeitarbeitslose sehen oft deutlich älter aus, als sie sind«, sagt Ernst Ulrich Huster, einer der Pioniere der Armutsforschung. »Vor Kurzem habe ich in einer Kirche eine Wandtafel mit Gebeten gesehen. Auf einem Zettel stand: ›Lieber Gott, herzlichen Dank, dass diese große Schande Hartz IV jetzt vorbei ist.‹« mehr beim Publik-Forum...

Quelle: Publik-Forum

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