Samstag, 24. Juli 2010

Von den Nebenwirkungen des Geldparadigma

von Lars Schall

Der Ökonom und Philosoph Professor Dr. Dr. Wolfgang Berger gehört zu den Kritikern einer absoluten Grundvoraussetzung des derzeitigen Finanzsystems: dem Zins. In einem ausführlichen Interview für chaostheorien.de stellt er gegenwärtige Zustände, Risiken und Alternativen dar. Eine seiner Kernaussagen: „Der Zins ist Systembestandteil, und er hat Nebenwirkungen, die deshalb auch Systembestandteil sind – schreckliche Nebenwirkungen.“

 
Prof. Dr. Dr. Wolfgang Berger, geboren 1941 in Kassel, ist Philosoph und Volkswirtschaftler. Er hat in Grenoble/Frankreich und Durham/USA Ökonomie und Philosophie studiert. Im Anschluss daran hat er mit einem Forschungsauftrag der Max-Planck-Gesellschaft an der Freien Universität Berlin und an der Technischen Universität Berlin zum Dr. phil. in Philosophie und zum Dr. rer. pol. in Volkswirtschaftslehre promoviert. Danach war er für 20 Jahre als leitender Manager in Europa und Übersee tätig.

Von 1988 bis 1997 war er Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft in Pforzheim, davon ein Jahr an der California State University in Hayward/USA. Seit 1997 leitet er das von ihm mit gegründete Business Reframing Institut in Karlsruhe (siehe hierzu: http://www.business-reframing.de). Die Konzeption für eine innere Neuausrichtung von Unternehmen hat er in dem Buch „Business Reframing – Erfolg durch Resonanz“, das im Gabler-Verlag erschien, dargelegt (3. Auflage, ISBN 978-3-409-38895-5).


Herr Professor Berger, wir befinden uns global in einer so genannten „Finanzkrise“. Benennt dieser oft bemühte Terminus das Problem eigentlich zutreffend oder wäre es nicht eher angebracht von einer systemimmanenten Schuldenkrise zu sprechen?

Wir können schon bei „Finanzkrise“ bleiben, denn die Schulden, die zunächst einigen Immobilienkäufern in den USA, später vielen systemrelevanten Banken und jetzt den meisten öffentlichen Haushalten weltweit über den Kopf wachsen, sind in unserer Finanzordnung notwendig. Stellen Sie sich einmal vor, alle könnten und würden ihre Schulden plötzlich zurückzahlen und ganz schuldenfrei sein. Dann hätten wir eine Systemkrise, die alles in den Schatten stellen würde, was wir bisher erlebt haben. Als Bill Clinton den Bundeshaushalt der USA ausgeglichen hatte, hat der damalige Notenbankchef Alan Greenspan ihn dafür kritisiert und zu bedenken gegeben, dass die Pensionsfonds nicht mehr wüssten, wo sie ihr Geld anlegen sollten, wenn der Staat sich nicht mehr verschuldet.

Als das Grundübel hinter dieser Entwicklung machen Sie das Phänomen des Zinses aus. Warum ist die Verzinsung, die allgemein als notwendig angesehen wird, damit das Geld als Kredit zur Verfügung steht, so schlimm?

In unserem System ist der Zins absolut notwendig. Wenn er niedrig ist wie z. Z. schafft er allein es nicht einmal, die Geldvermögen wieder in den Kreislauf zu locken, damit sie von den Banken als Kredit vergeben werden können. Wir brauchen außerdem noch die Inflation, die das Geld entwertet. Praktisch alle Notenbanken der Welt produzieren absichtlich Inflation. Ohne Zins und Inflation, würden die Geldvermögen kaum wieder angelegt werden, denn jede Anlage ist mit einem Risiko verbunden und wie wir gesehen haben, können auch Banken in Konkurs gehen. Ob die Staaten bei der nächsten Bankenkrise noch in der Lage sein werden, die Banken zu retten, ist fraglich. Der Zins ist Systembestandteil, und er hat Nebenwirkungen, die deshalb auch Systembestandteil sind – schreckliche Nebenwirkungen.

Welche „Nebenwirkungen“ meinen Sie? Das müssen Sie näher erklären.

Weil Geldvermögen sich verzinsen, wachsen sie und zwar exponentiell. Wir alle haben in der Schule gelernt, was eine Exponentialfunktion ist, und trotzdem sehen die meisten nicht, was das praktisch bedeutet: Die Verdoppelung in einem bestimmten Zeitraum, dessen Dauer von der Höhe des Zinses abhängt. Damit Sie es sich vorstellen können: Falten Sie ein Blatt Ihrer Tageszeitung, dann haben Sie zwei Lagen. Mit jedem weiteren Faltvorgang verdoppelt sich die Zahl der Papierlagen: nach zwei Mal sind es vier, nach sechs Mal 64, nach zehn Mal 1.024, nach 42 Mal 350.000 – und das ist schon die Entfernung von der Erde zum Mond. Statt Ihre Zeitung zu falten, können Sie auch immer die Zahl der 500-Euro-Scheine verdoppeln, die Sie stapeln. Auch dann reicht der Stapel bis zum Mond. Das ist die eine Seite der Medaille.
Und nun zur anderen Seite: Diese sich exponentiell erhöhenden Geldvermögen werden verzinst. Sie können aber nur verzinst werden, wenn es Schuldner gibt, die die Zinsen zahlen. Das ist der umgekehrte Stapel von 500-Euro-Schuldscheinen, die in ein Erdloch gepackt werden müssten, das den Planeten durchbohrt. Die exponentiell steigende Verschuldung von irgendjemandem ist also systembedingt notwendig. Und wenn Privatleute oder Unternehmen das nicht übernehmen wollen oder können, müssen es die öffentlichen Haushalte tun. Wenn sie sich weigern, bricht das System zusammen. In den Fachkreisen der Ökonomen, in der Politik und der Öffentlichkeit – vielleicht von Herrn Greenspan abgesehen – gibt es kaum jemand, der diesen einfachen Zusammenhang sieht.

Des Weiteren behaupten Sie, dass nur diejenigen, deren Zinseinkommen höher als ihr Arbeitseinkommen liegt, Gewinner des Systems sind. Wer sind denn diese Glücklichen im Großen und Ganzen? Und als was fungiert hier der große Rest?

Wenn Sie ein Produkt kaufen – z. B. den Computer, mit dem Sie dieses Interview lesen – hat dieses Produkt und jedes seiner Teile eine lange Reihe von Wertschöpfungsstufen durchlaufen, bevor Sie es benutzen können. Das gilt für jedes Produkt und für jede Dienstleistung, sei es ein Getränk, ein Fahrzeug, eine Reise, eine ärztliche Behandlung, ein Medikament, eine Fernsehsendung oder die Geschwindigkeitskontrolle der Polizei. In jeder dieser Stufen sind für Zwischenschritte Investitionen erforderlich, die finanziert werden müssen und immer gehen diese Investitionen mit ihren Zinsen in die Kalkulation ein und damit in den Preis. Würden die Zinsen in den Endpreis nicht hineinkalkuliert, könnte das Unternehmen, in dem die betreffende Wertschöpfungsstufe erstellt wird, nicht überleben. Wir müssen die Zinsanteile in der Kalkulation aus allen Wertschöpfungsstufen zusammenzählen und erhalten dann den Zinsanteil im Endprodukt. Im Durchschnitt aller Endpreise kommen wir dabei auf ungefähr 40 Prozent. Bei Getränken ist es weniger (ca. 30 Prozent), bei Mieten und Immobilienkäufen mehr (75 bis 80 Prozent).

Weiterhin ist bekannt, dass z. B. in Deutschland der Schuldendienst der zweithöchste Posten im Bundeshaushalt ist und wir unsere Steuern (auch die Mehrwertsteuer, die jeden unserer Einkäufe verteuert) an zweiter Stelle für Zinsen zahlen. Wir können also ganz grob gerechnet davon ausgehen, dass wir mit jedem Euro, den wir ausgeben, die Hälfte für Zinsen zahlen und nur die andere Hälfte für das Produkt oder die Dienstleistung. Wenn Sie also im Monat netto 3.000 Euro verdienen und sie vollständig ausgeben, zahlen Sie davon ungefähr 1.500 Euro Zinsen. Wenn Sie auf frühere Ersparnisse monatlich 1.500 Euro Zinsen kassieren, haben Sie also noch immer nichts gewonnen. Nur am Rande: Um monatlich 1.500 Euro (im Jahr 18.000 Euro) Zinsen zu bekommen, müssen Sie zum gegenwärtigen Ausgabesatz von Bundesanleihen (ca. drei Prozent) 600.000 Euro angelegt haben – deutlich mehr als eine halbe Million. Und ich bin sicher, dass die wenigen Leute, die soviel Geld „auf der hohen Kante“ haben, sich nicht darüber im Klaren sind, dass sie noch immer nicht zu den Gewinnern des Systems gehören. Die Verlierer machen weit mehr als 90 Prozent der Bevölkerung aus und von ihnen (also von „unten“) gibt es eine ständige Umverteilung nach „oben“ – zu den wenigen Gewinnern, deren Zinseinkünfte die Zinsausgaben deutlich übersteigen.

Könnten Sie einmal erläutern, warum das System, wie es derzeit ist, „unendliches Wachstum“ benötigt, um nicht zusammenzubrechen?

Die deutsche Wirtschaft wächst seit 60 Jahren jährlich fast immer um den gleichen absoluten Betrag, das von allen gemeinsam erarbeitete Bruttosozialprodukt wird ständig größer. Natürlich sinkt dabei der Prozentsatz: Wenn wir von hundert ausgehen und 15 hinzupacken, sind das 15 Prozent. Wenn das Jahr für Jahr so weiter geht und aus den hundert deshalb tausend geworden sind, entsprechen die 15, die dazu kommen, nur noch 1,5 Prozent. Ein ganz normaler Reifeprozess in einer Volkswirtschaft, bei der Westdeutschland vor 60 Jahren und China vor kurzem am Anfang gestanden hat. Solange die Wachstumsrate über dem Zinssatz liegt, gibt es etwas zu verteilen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können sich darüber auseinandersetzen, wer wie viel davon bekommt und auch für den Staat bleibt genug übrig, um die Infrastruktur auszubauen, Bildung und Forschung zu finanzieren oder das Netz der sozialen Sicherung enger zu knüpfen.

Seit vielen Jahren aber ist die Wachstumsrate unter dem Zinssatz. Obwohl die Wirtschaft ständig mehr erwirtschaftet, reicht das nicht aus, um die exponentiell wachsenden Ansprüche des Finanzsektors zu befriedigen. Deshalb muss uns allen die Differenz weggenommen werden. Das geschieht durch ein Absenken der Nettoentgelte für Arbeit, durch reduzierte staatliche Dienstleistungen, durch den Verkauf von „Tafelsilber“, das aus Steuergeldern aufgebaut worden ist (Post, Bahn, Elektrizitätsversorgung, Wasserwerke, Nahverkehr etc.), Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Abschaffung der Wehrpflicht und vieles mehr. Dass einzelne Politiker dabei noch behaupten, es müsse überall gekürzt werden, weil wir über unsere Verhältnisse gelebt hätten, zeugt von beängstigender Dummheit: Die exponentiell wachsenden Anteile des Volkseinkommens, das von „unten“ nach „oben“ umverteilt werden muss – das sind die gigantischen leistungslosen Einkommen. Sie müssen von allen gemeinsam erarbeitet werden, also von Unternehmern und von Arbeitsnehmern. Die lächerlichen Almosen, die den arbeitslosen Opfern des Systems gewährt werden, können wir dagegen vernachlässigen.

Natürlich wäre es den Politikern lieber, sie müssten uns nichts wegnehmen und die staatlichen Leistungen nicht abbauen, sondern könnten hier und da etwas hinzulegen. Das würde aber eine Wachstumsrate über dem Zinssatz voraussetzen – etwas, das in einer entwickelten Volkswirtschaft niemand braucht, das unser Planet nicht verkraften könnte und das, wie wir sehen, auch nicht funktioniert. Deshalb geht die gigantische und sich exponentiell beschleunigende Umverteilung von der großen Mehrheit zu einer kleinen Finanzaristokratie weiter.

Wie schaut es mit Kriegen und Zerstörungen aus? Das sind doch aus der Sicht der Zinswirtschaft prächtige Dinge, oder?

Wir können leicht errechnen, wann es soweit sein wird, dass alles in der Welt einer Handvoll Superreichen gehört und alle anderen ihnen in einem faktischen Sklavenstand dienen müssen. Das ist eine Situation, die Revolutionen gebiert. Die Geschichte lehrt uns, dass dabei selten etwas Besseres herausgekommen ist. Und bestehende Strukturen und Systeme haben auch immer ein starkes Beharrungsvermögen und tun alles, um zu überdauern. So bleibt als einziger Ausweg, um unser Finanzsystem zu erhalten, Krieg oder eine Krise mit kriegsähnlichen Folgen. Wenn alles zerstört ist, brauchen wir das System nicht zu reformieren. So wie nach dem Zweiten Weltkrieg können wir wieder von vorne anfangen – mit zweistelligen Wachstumsraten, die über dem Zinssatz liegen. Auf dem neuen niedrigen Niveau gibt es wieder etwas zu verteilen und der Zyklus beginnt erneut – bis zum nächsten Krieg oder Crash.

Muss das System nicht immer und immer wieder zusammenbrechen, sprich als eine Art „Ewige Wiederkunft des Gleichen“? Und wenn dem so ist, warum?

Den Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau erleben wir nun schon seit vielen Jahrhunderten: das Jahrtausendexperiment einer Finanzordnung mit Milliarden von unnötigen Menschenopfern. Führer ohne Kreativität haben immer wieder tote Institutionen geschaffen, die das System erhalten haben. Aber jetzt ist etwas anders. Die Welt, in der wir leben, wird gerade komplett umgekrempelt. Nichts bleibt, wie es war. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Darin steckt eine große Chance für jeden, der sich persönlich in Resonanz mit den globalen Veränderungen entwickelt und sich durch sie tragen lässt, ganz so wie sich die Delphine von den Wellen und die Vögel von den Winden tragen lassen.

Unser Erdmagnetfeld ändert sich dramatisch, im Südatlantik hat es sich bereits um die Hälfte abgeschwächt. Astrophysiker erwarten Sonneneruptionen von gigantischen Ausmaßen. Sie werden die Erde mit gewaltigen Elektronen- und Protonenwolken bombardieren und unsere gesamte Mikroelektronik funktionsunfähig machen. Vorboten gab es 1989 in Kanada und 2003 in Schweden. Sobald das geschieht, bricht unser Finanzsystem ohnehin zusammen. Wenn wir weise wären, würden wir es vorher schon so reformieren, wie wir es nach dem Zusammenbruch benötigen werden, wenn es dem Leben dienen soll.

Aus welchen Gründen wird man Ihres Erachtens nach hierzulande sehr gerne, schnell und zielsicher als „struktureller Antisemit“ gebrandmarkt, sobald man die Unverfrorenheit aufbringt, die Zins- und Zinseszinsproblematik zu thematisieren? War beispielsweise Aristoteles ein „struktureller Antisemit“, als er zu Zeiten des antiken Griechenlands schriftlich festhielt:

"So ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich dagegen durch sich selbst. […] Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur." (Politik, 1. Buch, Kap. 3)

Dass Aristoteles als Antisemit bezeichnet worden ist, ist mir nicht bekannt. Die Römische Kirche und Martin Luther schon, und vermutlich auch zu Recht. Aber dieses Argument heute ist etwas ganz anderes: Es ist ein „K.O.-Argument“ derjenigen, die eine Reform unseres zerstörerischen Finanzsystems verhindern wollen und deshalb die Verfechter einer solchen Reform sogar mit Holocaustleugnern auf eine Stufe stellen. Aus Angst vor dieser Brandmarkung beschäftigen sich viele brave Leute daher erst gar nicht mit den Reformvorschlägen und ihren segensreichen Wirkungen, denn Antisemit wollen sie nun wirklich nicht sein.

Hinter dieser Verunglimpfung stecken die Interessen derjenigen, die von dem System profitieren, die gerade dabei sind, sich die Rohstoffe, Wasserquellen und Reichtümer der Welt anzueignen, die auch die Presse kontrollieren und so eine sachkundige Beschäftigung mit unserem Finanzsystem und seinen Alternativen verhindern. Natürlich werden unter ihnen auch einige jüdische Milliardäre sein, aber ebenso selbstverständlich christliche, moslemische, buddhistische und gottlose Milliardäre. Sie alle vertreten – wer wollte es ihnen verdenken – ihre Interessen. Wir Nicht-Milliardäre aber sollten – und wer wollte es uns verdenken – unsere Interessen vertreten. Dieses Finanzsystem zerstört den sozialen Frieden, den politischen Frieden, ja in letzter Konsequenz das Leben auf dem Planeten. Die bevorstehenden dramatischen Sonneneruptionen werden es – trotz ihrer zunächst katastrophalen Auswirkungen für uns alle – deshalb wohl retten.

Wie betrachtet und beurteilt der Philosoph in Ihnen das, was der Zins- und Zinseszins in der Welt bewegt?

Spannend ist die Frage, warum die Mehrheit der Ökonomen die Problematik unseres zinsbasierten Finanzsystems nicht sieht. Ein wichtiger Zweig der Philosophie ist die Wissenschaftstheorie, die sich mit den Gesetzen der „Produktion“ von Wissen beschäftigt. Thomas Kuhn hat mit den Instrumenten der formalen Logik nachgewiesen, dass jede Wissenschaft auf Paradigmen aufbaut – auf Dogmen, die quasi das Fundament der Disziplin sind, die sich nicht beweisen lassen und die die Vertreter dieser Zunft glauben müssen. In meinem ersten Semester Volkswirtschaftslehre ist mir dieses Dogma der Ökonomie quasi eingeimpft worden: In einer Marktwirtschaft gibt es zu unserem Geld- und Finanzsystem keine Alternative: T. I. N. A. (There is no alternative).

Wenn ich das damals nicht geglaubt hätte, hätte ich schon die ersten Prüfungen nicht bestehen und niemals mein Studium in diesem Fach abschließen können. Hätte ich nach der Promotion auf diesem Gebiet weiter wissenschaftlich gearbeitet und Karriere gemacht, wäre ich vielleicht bis heute nicht in der Lage, dieses Dogma in Frage zu stellen und ganz neue, andere Gedanken zu denken. Das Paradigma der Zunft wäre Teil meiner Identität geworden und ich hätte mich selbst aufgeben müssen, wenn ich es angezweifelt hätte. Ich kann deshalb die Kollegen, die meine Sicht der Dinge für schwachsinnig halten, gut verstehen, fast wäre ich einer von ihnen geworden. Der große Physiker Max Planck hat uns deshalb ja auch darauf hingewiesen, dass sich eine neue wissenschaftliche Wahrheit nicht durchsetzt, weil die Verfechter der alten Wahrheit überzeugt werden, sondern erst, nachdem die Verfechter der alten Wahrheit ausgestorben sind. Wenn wir in diesem Fall so lange warten wollten, würde der Planet die Menschheit bis dahin abgeschüttelt haben, und wie wir jetzt wissen, kommt ihm die Sonne dabei zu Hilfe.

Alle Religionen haben den Zins verboten, wirklich alle. Der Ökonom in mir sagt, dass das wegen der verheerenden Auswirkungen des Zinseszinses zwar richtig ist, aber nicht funktioniert: Wenn wir etwas verbieten, was die Menschen tun wollen, tun viele es heimlich. Wenn wir den Zins verbieten, bildet sich ein Schwarzmarkt mit reduzierter Rechtssicherheit, wo eben doch Geld gegen Zins verliehen wird. Wir brauchen einen Mechanismus, der das Problem marktkonform löst.

Ihnen schwebt als Alternative zum derzeitigen Geld vor, es durch „fließendes Geld“ mit einer „Demurrage“ zu ersetzen. Was muss man sich darunter vorstellen?

Wenn wir keinen Zins und keine Inflation wollen, brauchen wir einen anderen Mechanismus, der Geldvermögen wieder in den Kreislauf lockt, so dass sie als Kredit dort zur Verfügung stehen und rentabel eingesetzt werden können, wo sie für Investitionen gebraucht werden. Dieser Mechanismus ist die „Demurrage“. So heißt auf französisch und auf englisch die Liegegebühr für Schiffe im Hafen. Sie sorgt dafür, dass die Schiffe schnell ent- und beladen werden und weiter fahren. Und hier ist es eine Parkgebühr für Geld:

Die Zentralbank muss nur eine kleine Stellschraube betätigen und von den Geschäftsbanken verlangen, dass sie eine Gebühr auf die Giroguthaben abführen – quasi eine Geldsteuer. Diese Gebühr wird gestaffelt niedriger, wenn das Geld festgelegt wird und sie entfällt, wenn es langfristig angelegt ist. Im Bargeld gibt z. B. ein Chip oder ein Magnetstreifen darüber Auskunft, bis wann der Schein noch den Nominalbetrag wert ist und wann welche Gebühr zu entrichten ist, damit er ohne „Disagio“ angenommen werden kann. Die Lesegeräte hierfür – die Sicherheitsprüfgeräte bei der Bank – können dann bei jedem Einzelhändler stehen und sie ließen sich auch in unsere Mobiltelefone integrieren. Diese Gebühr wird von der Zentralbank so festgelegt, dass sich der Zins auf dem Markt auf Null einpendelt. Wie die Bank ihre Kosten deckt – ob über Gebühren auf Einlagen und/oder auf Kredite – wird der Markt entscheiden.

Warum muss „gehortetes Geld“ an Wert verlieren, wohingegen „fließendes Geld“ vor Wertverlust geschützt ist?

Das liquide Geld (auf dem Konto oder in bar) verliert nicht an Wert. Im Gegenteil: die Zentralbank kann sich jetzt eine Inflation von Null leisten, so dass das Geld absolut wertbeständig ist. Wer aber Geld hat, wird bestrebt sein, die Gebühr nicht zu zahlen. Dazu gibt es drei Möglichkeiten:
  1. es ausgeben (für Konsumgüter oder für Investitionen),
  2. es anlegen (die Banken und Versicherungen werden die Angebote dafür entwickeln),
  3. es verschenken.
In jedem dieser Fälle fließt es weiter, deshalb auch „fließendes Geld“. Der Geldumlauf verstetigt sich und die Geldmengensteuerung der Zentralbank greift endlich.

Welche Änderungen müssten im Bankensystem vorgenommen werden, um „fließendes Geld“ einzuführen?

Für die Banken ändern sich nur die Rahmenbedingungen für das klassische Bankgeschäft (Ersparnisse einsammeln und Kredite vergeben), sonst nichts. Sie müssen ihre Angebote an diese neuen Rahmenbedingungen anpassen, die von der Zentralbank vorgegeben werden.

Was blühte einem Staat, der zum bisherigen System „Adieu“ sagte, um fortan „fließendes Geld“ zu benutzen?

Nach einer Überganszeit können die Unternehmen ihre Investitionen zinsfrei finanzieren und auch der Staat kann – wenn er es dann noch will – bei seinen Bürgern zinsfrei Kredite aufnehmen. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Umverteilung von unten nach oben über die Zinsanteile in den Preisen beendet ist und die Bevölkerung zum heutigen Preisniveau die doppelte Kaufkraft hat. Ein großer Teil der Anpassung an die Rahmenbedingungen wird aber wohl auch über erhöhte Arbeitsentgelte (Löhne und Gehälter) erfolgen. Leistungslose Einkommen gibt es nicht mehr. Reichtum kann ausschließlich durch Arbeit erschaffen werden, Geld vermehrt sich nicht mehr „von selbst“ – und das heißt ja schließlich: durch die Arbeit von anderen.

Viele Leute sind mit ihren bisherigen Lebensstandard zufrieden, wenn er durch langfristig stabile Verhältnisse abgesichert ist. Sie werden die doppelte Kaufkraft gar nicht brauchen oder haben wollen und lieber die Hälfte arbeiten. Wenn die Zahl derer so groß ist wie die Zahl der Arbeitslosen, ist das Problem der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit statistisch gelöst. Wahrscheinlich sinkt das Angebot an Arbeitsleistung, so dass die Unternehmen ihre Mitarbeiter besser bezahlen müssen, um sie zu halten.

Gibt es für dieses „fließende Geld“ erfolgreiche historische Vorbilder??

Ja, im frühen Mitteleuropa, etwa von 1150 bis 1450 hat es in ganz Mitteleuropa fließendes Geld gegeben. Die Münzen der damaligen Zeit (Brakteaten) waren aus dünnem Blech, dem das Konterfei des jeweiligen Fürsten und die Jahreszahl ihrer Gültigkeit aufgeprägt waren. Am Ende des Jahres mussten sie gegen die im neuen Jahr gültigen Münzen umgetauscht werden. Bei diesem Umtausch behielt der Herrscher 20 Prozent ein. Das war die einzige Steuer, mit der er den Staatshaushalt finanzierte, seine Schlösser baute, die Bediensteten bezahlte und das Militär unterhielt.

Die reichen mittelständischen Unternehmer dieser Zeit waren Handwerksmeister, und sie waren wenig geneigt, mit dem „Schlagsatz“ (so hieß die Demurrage damals) das Luxusleben ihres Herrschers zu finanzieren. Und so investierten sie ihr Geld in ihr eigenes Luxusleben: prachtvolle Fachwerkhäuser, die wir heute noch in unseren mittelalterlichen Städten bewundern können. Nach der Bauzeit für ein solches Haus (ich schätze um die zehn Jahre) haben sie weiter viel Geld verdient, mit dem sie den Fürsten nicht unterstützen wollten. Was konnten sie damit anfangen? Mietshäuser gab es damals nicht, nur Häuser für den eigenen Bedarf. Und so spendeten sie es der Kirche, in der Erwartung nicht nur hier auf Erden, sondern hernach auch für die Seligkeit im Himmel alles getan zu haben. Die Kirche wurde reich und baute mit diesem Reichtum die eindrucksvollen Dome und Kathedralen, die wir an vielen Orten in Mitteleuropa bestaunen können.

Nun meinen Sie vielleicht, die Menschen müssten sich kaputt gearbeitet haben, um diese Denkmäler zu erschaffen. Natürlich waren sie fleißig – wir sind es ja heute auch. Aber sie hatten neben dem Sonntag den „blauen Montag“ frei und darüber hinaus gab es über hundert kirchliche Feiertage im Jahr. Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat das Leben an den arbeitsfreien Tagen beschrieben: mit Tanz und Gesang, mit Troubadouren und Geschichtenerzählern, mit Fress- und Saufgelagen. Er hat die üppigen Met-, Wein- und Speisekarten ausführlich zitiert, da läuft einem heute noch das Wasser im Munde zusammen.

In diesen drei Jahrhunderten sind aus ärmlichen Fischerdörfern rund um die Nord- und Ostsee reiche Hansestädte geworden. Und es war eine friedliche Zeit ohne Krieg, weshalb sie der Geschichtsunterricht zu meiner Schulzeit übersprungen hat. Da ist nichts passiert und Geschichtsunterricht war Kriegsberichterstattung. Die Phase der Hochkultur ging zu Ende, weil die Fürsten gierig geworden waren: Sie haben die Demurrage von 20 auf 30 und mehr Prozent erhöht und die Münzen dann nicht mehr für ein ganzes, sondern nur noch für ein halbes Jahr ausgegeben. Ein solches Geld war nutzlos, die Leute haben es einfach nicht mehr angenommen und sind zum Tauschhandel zurückgekehrt. Das war schwierig und hat den Handel einbrechen lassen.

Die Bevölkerung hat „richtiges Geld“ verlangt – Edelmetall – und es auch bekommen. Der Joachimsthaler (später Thaler) aus den Silberbergwerken im böhmischen Joachimsthal wurde geprägt, der Wert der Münze entsprach ihrem Metallwert. Es gab auch Goldmünzen, bei denen der Prägestempel den Materialwert bestätigte. Dieses Geld behielt jeder gern. Es war werthaltig, brauchte nicht mehr ausgegeben zu werden und wurde gern „auf die hohe Kante“ gelegt, die oberen Balken in den Fachwerkhäusern – ein sicheres Versteck. So ist die Wirtschaft vollends zusammengebrochen. Die folgenden Hungersnöte haben Kriege ausgelöst, in denen die Herrscher die Ernte der Nachbarn erobern wollten. Es folgte die düstere Phase des Mittelalters, die unser Bild dieser Zeit geprägt hat: Die rothaarigen Frauen schienen an dem Elend schuld und wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der Ketzer wegen hatte Gott offenbar seinen Schutz aufgekündigt; sie wurden gerädert – in Holzfässer gesteckt, in die von außen lange Nägel getrieben waren und darin den Berg heruntergerollt. Die Pest brach aus, die einen großen Teil der Bevölkerung hinwegraffte, und der Dreißigjährige Krieg, in dem alles zerstört wurde.

Inwieweit ist diese von Ihnen beschriebene Konzeption späterhin von dem Nationalökonomen Silvio Gesell aufgenommen worden und welche Spuren finden sich davon bei anderen Ökonomen, beispielsweise bei Irving Fisher und John Maynard Keynes?

Vor hundert Jahren hat Silvio Gesell die Funktionsweise fließenden Geldes durchschaut und in einem umfangreichen Werk erklärt und veröffentlicht. Er hat es „Freigeld“ genannt – weil es uns die Freiheit schenkt. Diesen historischen Begriff halte ich heute für kontraproduktiv. Es gibt kein Freibier, niemand bekommt etwas geschenkt, es muss alles erarbeitet werden. Fließendes Geld ist der moderne Begriff dafür und er deutet an, dass dieses Geld in der Wirtschaft die Funktion erfüllt, die das Blut in unserem Körper und das Wasser in der Natur hat: Zu fließen und so das Leben zu erhalten. Wenn unser Blut nicht mehr fließt, sind wir tot. Wenn das Wasser nicht mehr fließt, stirbt die Natur, zu der auch wir Menschen gehören.

Die bedeutenden Ökonomen John Maynard Keynes und Irving Fisher haben Gesells Werk anerkannt und verstanden (Fisher besonders in seinem Spätwerk „100% Money“), aber die Zeit für die Umsetzung von Gesells Konzepten war nicht reif. Die Gegenkräfte haben sich durchgesetzt und viele Kriege seitdem sind die historische Konsequenz.

Auch heute gibt es einige namhafte Ökonomen, die verstanden haben, dass wir eine Demurrage brauchen, um aus der Krise herauszukommen: Willem H. Buiter von der London School of Economics z. B. hat in einem Beitrag für die Financial Times die Abschaffung des Papiergeldes gefordert, weil die Zentralbanken so die Möglichkeit bekämen, den Nominalzins unter null zu drücken. Der Havard-Professor Greg Mankiw hat einen Negativzins gefordert und die schwedische Reichsbank Sveriges Riksbank hat in einer weltweiten Premiere in 2009 die Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank mit einem Satz unter Null „verzinst“. Das deutsche Handelsblatt präsentiert am 18. Mai 2009 die Schlagzeile: "Das Undenkbare denken - Negative Leitzinsen gelten als nicht möglich - prominente Ökonomen fordern sie trotzdem“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt am 29. April 2009: "Federal Reserve hält Leitzins von minus 5 Prozent für angemessen - Amerikas Geldpolitik stößt an ihre Grenzen ...ein negativer Leitzins von 5 Prozent würde bedeuten, dass sich die Geschäftsbanken von der Fed Geld leihen könnten, beispielsweise 100 Dollar, und später nur 95 Doller zurückbezahlen müssten. Sie hätten aber keinen Anreiz, ihrerseits zum negativen Zins Kredite zu vergeben, weil Geldhaltung – z. B. unter der Matratze – null Prozent abwirft“.

Inwiefern könnte „fließendes Geld“ das errichten, was Sie „Fairconomy“ nennen?

Fließendes Geld vermehrt sich nicht mehr „von selbst“ – und das bedeutet ja: nicht mehr durch die Arbeit von anderen. Wer reich werden will, muss entweder selbst mehr arbeiten oder eine höhere Vergütung für seine Arbeit durchsetzen können. Wo Reichtum nur noch durch Arbeit entsteht und nicht mehr durch eine Finanzindustrie, die nichts erschafft, sondern im Gegenteil oft das Erschaffene zerstört (wir könnten auch sagen „raubt“), hat das wundersame Konsequenzen:
  1. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich nicht noch weiter, sondern schließt sich sehr langsam sogar wieder. Wir erhalten nach und nach eine ausgewogene und faire Einkommens- und Vermögensverteilung, die die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Menschen spiegelt. Das ist fair.
  2. Spekulation kann sich allenfalls als eine Schaumkrone auf den Wellen des Meeres halten – eines Meeres von real wirtschaftenden Menschen und Unternehmen, die den Reichtum erhalten und vermehren, von dem alle Menschen profitieren wollen. Das ist vernünftiges Haushalten (oikos nomos, was Ökonomie auf Griechisch bedeutet).
  3. Hohe Einkommensunterschiede destabilisieren nicht länger die Nachfrage. Damit gehört das Auf und Ab von Konjunkturschwankungen der Geschichte an. Die Wirtschaft entwickelt sich stetig und gleichmäßig.
  4. Die neue Geld- und Finanzordnung macht plötzlich langfristige Investitionen rentabel. Das hat zur Folge, dass Unternehmen für die Zerstörung der Umwelt von den Finanzmärkten nicht mehr belohnt werden (wie es jetzt noch der Fall ist). Nachhaltiges Wirtschaften lohnt sich plötzlich und setzt sich deshalb durch.
  5. Kriege zur Erhaltung des „Systems“ sind unnötig und werden deshalb auch weitgehend verschwinden. Wir können einer anhaltenden Friedenphase entgegen sehen, in der es der Menschheit gelingen kann, den wunderschönen Planeten Erde in das zu verwandeln, als das er erschaffen worden ist: Ein Paradies für zehn Milliarden Menschen.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Professor Berger!

Noch ein kleines „Nachwort“: Was ich hier dargelegt habe, finden Sie in keiner Zeitung, in keiner Radio- oder Fernsehsendung. Alle Redaktionen müssen gegenüber ihren Eigentümern oder großen Inserenten vorauseilenden Gehorsam leisten und die einfache Lösung für eine Reform unserer Geld- und Finanzordnung totschweigen, wenn sie ihren Arbeitsplatz nicht riskieren wollen. Das können wir ihnen nicht verdenken. Deshalb ist das Internet der einzige Weg, diese Ideen zu verbreiten. Nutzen Sie ihn.

Aber es gibt eine Ausnahme: Die Zeitschrift HUMANE WIRTSCHAFT (www.humanewirtschaft.de) kommt ganz ohne Anzeigen aus, sie wird von einem Verein herausgegeben, der von Spendern finanziert wird. Hier können Sie allgemein verständliche Artikel von mir und meinen zahlreichen Mitstreitern lesen, u. a. von habilitierten Professoren der Ökonomie und Mathematik, die von der Presse auch totgeschwiegen werden.

Nochmals vielen Dank!


Quelle: chaostheorien

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