von Lars Schall
Der Ökonom und Philosoph
Professor Dr. Dr. Wolfgang Berger gehört zu den Kritikern einer
absoluten Grundvoraussetzung des derzeitigen Finanzsystems: dem Zins. In
einem ausführlichen Interview für chaostheorien.de stellt er
gegenwärtige Zustände, Risiken und Alternativen dar. Eine seiner
Kernaussagen: „Der Zins ist Systembestandteil, und er hat
Nebenwirkungen, die deshalb auch Systembestandteil sind – schreckliche
Nebenwirkungen.“
Prof.
Dr. Dr. Wolfgang Berger, geboren 1941 in Kassel, ist Philosoph und
Volkswirtschaftler. Er hat in Grenoble/Frankreich und Durham/USA
Ökonomie und Philosophie studiert. Im Anschluss daran hat er mit einem
Forschungsauftrag der Max-Planck-Gesellschaft an der Freien Universität
Berlin und an der Technischen Universität Berlin zum Dr. phil. in
Philosophie und zum Dr. rer. pol. in Volkswirtschaftslehre promoviert.
Danach war er für 20 Jahre als leitender Manager in Europa und Übersee
tätig.
Von
1988 bis 1997 war er Professor für Betriebswirtschaftslehre an der
Hochschule für Wirtschaft in Pforzheim, davon ein Jahr an der California
State University in Hayward/USA. Seit 1997 leitet er das von ihm mit
gegründete Business Reframing Institut in Karlsruhe (siehe hierzu: http://www.business-reframing.de).
Die Konzeption für eine innere Neuausrichtung von Unternehmen hat er in
dem Buch „Business Reframing – Erfolg durch Resonanz“, das im
Gabler-Verlag erschien, dargelegt (3. Auflage, ISBN 978-3-409-38895-5).
Herr
Professor Berger, wir befinden uns global in einer so genannten
„Finanzkrise“. Benennt dieser oft bemühte Terminus das Problem
eigentlich zutreffend oder wäre es nicht eher angebracht von einer
systemimmanenten Schuldenkrise zu sprechen?
Wir
können schon bei „Finanzkrise“ bleiben, denn die Schulden, die zunächst
einigen Immobilienkäufern in den USA, später vielen systemrelevanten
Banken und jetzt den meisten öffentlichen Haushalten weltweit über den
Kopf wachsen, sind in unserer Finanzordnung notwendig. Stellen Sie sich
einmal vor, alle könnten und würden ihre Schulden plötzlich zurückzahlen
und ganz schuldenfrei sein. Dann hätten wir eine Systemkrise, die alles
in den Schatten stellen würde, was wir bisher erlebt haben. Als Bill
Clinton den Bundeshaushalt der USA ausgeglichen hatte, hat der damalige
Notenbankchef Alan Greenspan ihn dafür kritisiert und zu bedenken
gegeben, dass die Pensionsfonds nicht mehr wüssten, wo sie ihr Geld
anlegen sollten, wenn der Staat sich nicht mehr verschuldet.
Als
das Grundübel hinter dieser Entwicklung machen Sie das Phänomen des
Zinses aus. Warum ist die Verzinsung, die allgemein als notwendig
angesehen wird, damit das Geld als Kredit zur Verfügung steht, so
schlimm?
In unserem System
ist der Zins absolut notwendig. Wenn er niedrig ist wie z. Z. schafft er
allein es nicht einmal, die Geldvermögen wieder in den Kreislauf zu
locken, damit sie von den Banken als Kredit vergeben werden können. Wir
brauchen außerdem noch die Inflation, die das Geld entwertet. Praktisch
alle Notenbanken der Welt produzieren absichtlich Inflation. Ohne Zins
und Inflation, würden die Geldvermögen kaum wieder angelegt werden, denn
jede Anlage ist mit einem Risiko verbunden und wie wir gesehen haben,
können auch Banken in Konkurs gehen. Ob die Staaten bei der nächsten
Bankenkrise noch in der Lage sein werden, die Banken zu retten, ist
fraglich. Der Zins ist Systembestandteil, und er hat Nebenwirkungen, die
deshalb auch Systembestandteil sind – schreckliche Nebenwirkungen.
Welche „Nebenwirkungen“ meinen Sie? Das müssen Sie näher erklären.
Weil
Geldvermögen sich verzinsen, wachsen sie und zwar exponentiell. Wir
alle haben in der Schule gelernt, was eine Exponentialfunktion ist, und
trotzdem sehen die meisten nicht, was das praktisch bedeutet: Die
Verdoppelung in einem bestimmten Zeitraum, dessen Dauer von der Höhe des
Zinses abhängt. Damit Sie es sich vorstellen können: Falten Sie ein
Blatt Ihrer Tageszeitung, dann haben Sie zwei Lagen. Mit jedem weiteren
Faltvorgang verdoppelt sich die Zahl der Papierlagen: nach zwei Mal sind
es vier, nach sechs Mal 64, nach zehn Mal 1.024, nach 42 Mal 350.000 –
und das ist schon die Entfernung von der Erde zum Mond. Statt Ihre
Zeitung zu falten, können Sie auch immer die Zahl der 500-Euro-Scheine
verdoppeln, die Sie stapeln. Auch dann reicht der Stapel bis zum Mond.
Das ist die eine Seite der Medaille.
Und
nun zur anderen Seite: Diese sich exponentiell erhöhenden Geldvermögen
werden verzinst. Sie können aber nur verzinst werden, wenn es Schuldner
gibt, die die Zinsen zahlen. Das ist der umgekehrte Stapel von
500-Euro-Schuldscheinen, die in ein Erdloch gepackt werden müssten, das
den Planeten durchbohrt. Die exponentiell steigende Verschuldung von
irgendjemandem ist also systembedingt notwendig. Und wenn Privatleute
oder Unternehmen das nicht übernehmen wollen oder können, müssen es die
öffentlichen Haushalte tun. Wenn sie sich weigern, bricht das System
zusammen. In den Fachkreisen der Ökonomen, in der Politik und der
Öffentlichkeit – vielleicht von Herrn Greenspan abgesehen – gibt es kaum
jemand, der diesen einfachen Zusammenhang sieht.
Des
Weiteren behaupten Sie, dass nur diejenigen, deren Zinseinkommen höher
als ihr Arbeitseinkommen liegt, Gewinner des Systems sind. Wer sind denn
diese Glücklichen im Großen und Ganzen? Und als was fungiert hier der
große Rest?
Wenn Sie ein
Produkt kaufen – z. B. den Computer, mit dem Sie dieses Interview lesen –
hat dieses Produkt und jedes seiner Teile eine lange Reihe von
Wertschöpfungsstufen durchlaufen, bevor Sie es benutzen können. Das gilt
für jedes Produkt und für jede Dienstleistung, sei es ein Getränk, ein
Fahrzeug, eine Reise, eine ärztliche Behandlung, ein Medikament, eine
Fernsehsendung oder die Geschwindigkeitskontrolle der Polizei. In jeder
dieser Stufen sind für Zwischenschritte Investitionen erforderlich, die
finanziert werden müssen und immer gehen diese Investitionen mit ihren
Zinsen in die Kalkulation ein und damit in den Preis. Würden die Zinsen
in den Endpreis nicht hineinkalkuliert, könnte das Unternehmen, in dem
die betreffende Wertschöpfungsstufe erstellt wird, nicht überleben. Wir
müssen die Zinsanteile in der Kalkulation aus allen Wertschöpfungsstufen
zusammenzählen und erhalten dann den Zinsanteil im Endprodukt. Im
Durchschnitt aller Endpreise kommen wir dabei auf ungefähr 40 Prozent.
Bei Getränken ist es weniger (ca. 30 Prozent), bei Mieten und
Immobilienkäufen mehr (75 bis 80 Prozent).
Weiterhin
ist bekannt, dass z. B. in Deutschland der Schuldendienst der
zweithöchste Posten im Bundeshaushalt ist und wir unsere Steuern (auch
die Mehrwertsteuer, die jeden unserer Einkäufe verteuert) an zweiter
Stelle für Zinsen zahlen. Wir können also ganz grob gerechnet davon
ausgehen, dass wir mit jedem Euro, den wir ausgeben, die Hälfte für
Zinsen zahlen und nur die andere Hälfte für das Produkt oder die
Dienstleistung. Wenn Sie also im Monat netto 3.000 Euro verdienen und
sie vollständig ausgeben, zahlen Sie davon ungefähr 1.500 Euro Zinsen.
Wenn Sie auf frühere Ersparnisse monatlich 1.500 Euro Zinsen kassieren,
haben Sie also noch immer nichts gewonnen. Nur am Rande: Um monatlich
1.500 Euro (im Jahr 18.000 Euro) Zinsen zu bekommen, müssen Sie zum
gegenwärtigen Ausgabesatz von Bundesanleihen (ca. drei Prozent) 600.000
Euro angelegt haben – deutlich mehr als eine halbe Million. Und ich bin
sicher, dass die wenigen Leute, die soviel Geld „auf der hohen Kante“
haben, sich nicht darüber im Klaren sind, dass sie noch immer nicht zu
den Gewinnern des Systems gehören. Die Verlierer machen weit mehr als 90
Prozent der Bevölkerung aus und von ihnen (also von „unten“) gibt es
eine ständige Umverteilung nach „oben“ – zu den wenigen Gewinnern, deren
Zinseinkünfte die Zinsausgaben deutlich übersteigen.
Könnten Sie einmal erläutern, warum das System, wie es derzeit ist, „unendliches Wachstum“ benötigt, um nicht zusammenzubrechen?
Die
deutsche Wirtschaft wächst seit 60 Jahren jährlich fast immer um den
gleichen absoluten Betrag, das von allen gemeinsam erarbeitete
Bruttosozialprodukt wird ständig größer. Natürlich sinkt dabei der
Prozentsatz: Wenn wir von hundert ausgehen und 15 hinzupacken, sind das
15 Prozent. Wenn das Jahr für Jahr so weiter geht und aus den hundert
deshalb tausend geworden sind, entsprechen die 15, die dazu kommen, nur
noch 1,5 Prozent. Ein ganz normaler Reifeprozess in einer
Volkswirtschaft, bei der Westdeutschland vor 60 Jahren und China vor
kurzem am Anfang gestanden hat. Solange die Wachstumsrate über dem
Zinssatz liegt, gibt es etwas zu verteilen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer
können sich darüber auseinandersetzen, wer wie viel davon bekommt und
auch für den Staat bleibt genug übrig, um die Infrastruktur auszubauen,
Bildung und Forschung zu finanzieren oder das Netz der sozialen
Sicherung enger zu knüpfen.
Seit
vielen Jahren aber ist die Wachstumsrate unter dem Zinssatz. Obwohl die
Wirtschaft ständig mehr erwirtschaftet, reicht das nicht aus, um die
exponentiell wachsenden Ansprüche des Finanzsektors zu befriedigen.
Deshalb muss uns allen die Differenz weggenommen werden. Das geschieht
durch ein Absenken der Nettoentgelte für Arbeit, durch reduzierte
staatliche Dienstleistungen, durch den Verkauf von „Tafelsilber“, das
aus Steuergeldern aufgebaut worden ist (Post, Bahn,
Elektrizitätsversorgung, Wasserwerke, Nahverkehr etc.), Verlängerung der
Lebensarbeitszeit, Abschaffung der Wehrpflicht und vieles mehr. Dass
einzelne Politiker dabei noch behaupten, es müsse überall gekürzt
werden, weil wir über unsere Verhältnisse gelebt hätten, zeugt von
beängstigender Dummheit: Die exponentiell wachsenden Anteile des
Volkseinkommens, das von „unten“ nach „oben“ umverteilt werden muss –
das sind die gigantischen leistungslosen Einkommen. Sie müssen von allen
gemeinsam erarbeitet werden, also von Unternehmern und von
Arbeitsnehmern. Die lächerlichen Almosen, die den arbeitslosen Opfern
des Systems gewährt werden, können wir dagegen vernachlässigen.
Natürlich
wäre es den Politikern lieber, sie müssten uns nichts wegnehmen und die
staatlichen Leistungen nicht abbauen, sondern könnten hier und da etwas
hinzulegen. Das würde aber eine Wachstumsrate über dem Zinssatz
voraussetzen – etwas, das in einer entwickelten Volkswirtschaft niemand
braucht, das unser Planet nicht verkraften könnte und das, wie wir
sehen, auch nicht funktioniert. Deshalb geht die gigantische und sich
exponentiell beschleunigende Umverteilung von der großen Mehrheit zu
einer kleinen Finanzaristokratie weiter.
Wie schaut es mit Kriegen und Zerstörungen aus? Das sind doch aus der Sicht der Zinswirtschaft prächtige Dinge, oder?
Wir
können leicht errechnen, wann es soweit sein wird, dass alles in der
Welt einer Handvoll Superreichen gehört und alle anderen ihnen in einem
faktischen Sklavenstand dienen müssen. Das ist eine Situation, die
Revolutionen gebiert. Die Geschichte lehrt uns, dass dabei selten etwas
Besseres herausgekommen ist. Und bestehende Strukturen und Systeme haben
auch immer ein starkes Beharrungsvermögen und tun alles, um zu
überdauern. So bleibt als einziger Ausweg, um unser Finanzsystem zu
erhalten, Krieg oder eine Krise mit kriegsähnlichen Folgen. Wenn alles
zerstört ist, brauchen wir das System nicht zu reformieren. So wie nach
dem Zweiten Weltkrieg können wir wieder von vorne anfangen – mit
zweistelligen Wachstumsraten, die über dem Zinssatz liegen. Auf dem
neuen niedrigen Niveau gibt es wieder etwas zu verteilen und der Zyklus
beginnt erneut – bis zum nächsten Krieg oder Crash.
Muss
das System nicht immer und immer wieder zusammenbrechen, sprich als
eine Art „Ewige Wiederkunft des Gleichen“? Und wenn dem so ist, warum?
Den
Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau erleben wir nun schon seit
vielen Jahrhunderten: das Jahrtausendexperiment einer Finanzordnung mit
Milliarden von unnötigen Menschenopfern. Führer ohne Kreativität haben
immer wieder tote Institutionen geschaffen, die das System erhalten
haben. Aber jetzt ist etwas anders. Die Welt, in der wir leben, wird
gerade komplett umgekrempelt. Nichts bleibt, wie es war. Kein Stein
bleibt auf dem anderen. Darin steckt eine große Chance für jeden, der
sich persönlich in Resonanz mit den globalen Veränderungen entwickelt
und sich durch sie tragen lässt, ganz so wie sich die Delphine von den
Wellen und die Vögel von den Winden tragen lassen.
Unser
Erdmagnetfeld ändert sich dramatisch, im Südatlantik hat es sich
bereits um die Hälfte abgeschwächt. Astrophysiker erwarten
Sonneneruptionen von gigantischen Ausmaßen. Sie werden die Erde mit
gewaltigen Elektronen- und Protonenwolken bombardieren und unsere
gesamte Mikroelektronik funktionsunfähig machen. Vorboten gab es 1989 in
Kanada und 2003 in Schweden. Sobald das geschieht, bricht unser
Finanzsystem ohnehin zusammen. Wenn wir weise wären, würden wir es
vorher schon so reformieren, wie wir es nach dem Zusammenbruch benötigen
werden, wenn es dem Leben dienen soll.
Aus
welchen Gründen wird man Ihres Erachtens nach hierzulande sehr gerne,
schnell und zielsicher als „struktureller Antisemit“ gebrandmarkt,
sobald man die Unverfrorenheit aufbringt, die Zins- und
Zinseszinsproblematik zu thematisieren? War beispielsweise Aristoteles
ein „struktureller Antisemit“, als er zu Zeiten des antiken
Griechenlands schriftlich festhielt:
"So
ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb
zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des
Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich
dagegen durch sich selbst. […] Diese Art des Gelderwerbs ist also am
meisten gegen die Natur." (Politik, 1. Buch, Kap. 3)
Dass
Aristoteles als Antisemit bezeichnet worden ist, ist mir nicht bekannt.
Die Römische Kirche und Martin Luther schon, und vermutlich auch zu
Recht. Aber dieses Argument heute ist etwas ganz anderes: Es ist ein
„K.O.-Argument“ derjenigen, die eine Reform unseres zerstörerischen
Finanzsystems verhindern wollen und deshalb die Verfechter einer solchen
Reform sogar mit Holocaustleugnern auf eine Stufe stellen. Aus Angst
vor dieser Brandmarkung beschäftigen sich viele brave Leute daher erst
gar nicht mit den Reformvorschlägen und ihren segensreichen Wirkungen,
denn Antisemit wollen sie nun wirklich nicht sein.
Hinter
dieser Verunglimpfung stecken die Interessen derjenigen, die von dem
System profitieren, die gerade dabei sind, sich die Rohstoffe,
Wasserquellen und Reichtümer der Welt anzueignen, die auch die Presse
kontrollieren und so eine sachkundige Beschäftigung mit unserem
Finanzsystem und seinen Alternativen verhindern. Natürlich werden unter
ihnen auch einige jüdische Milliardäre sein, aber ebenso
selbstverständlich christliche, moslemische, buddhistische und gottlose
Milliardäre. Sie alle vertreten – wer wollte es ihnen verdenken – ihre
Interessen. Wir Nicht-Milliardäre aber sollten – und wer wollte es uns
verdenken – unsere Interessen vertreten. Dieses Finanzsystem zerstört
den sozialen Frieden, den politischen Frieden, ja in letzter Konsequenz
das Leben auf dem Planeten. Die bevorstehenden dramatischen
Sonneneruptionen werden es – trotz ihrer zunächst katastrophalen
Auswirkungen für uns alle – deshalb wohl retten.
Wie betrachtet und beurteilt der Philosoph in Ihnen das, was der Zins- und Zinseszins in der Welt bewegt?
Spannend
ist die Frage, warum die Mehrheit der Ökonomen die Problematik unseres
zinsbasierten Finanzsystems nicht sieht. Ein wichtiger Zweig der
Philosophie ist die Wissenschaftstheorie, die sich mit den Gesetzen der
„Produktion“ von Wissen beschäftigt. Thomas Kuhn hat mit den
Instrumenten der formalen Logik nachgewiesen, dass jede Wissenschaft auf
Paradigmen aufbaut – auf Dogmen, die quasi das Fundament der Disziplin
sind, die sich nicht beweisen lassen und die die Vertreter dieser Zunft
glauben müssen. In meinem ersten Semester Volkswirtschaftslehre ist mir
dieses Dogma der Ökonomie quasi eingeimpft worden: In einer
Marktwirtschaft gibt es zu unserem Geld- und Finanzsystem keine
Alternative: T. I. N. A. (There is no alternative).
Wenn ich das damals nicht geglaubt
hätte, hätte ich schon die ersten Prüfungen nicht bestehen und niemals
mein Studium in diesem Fach abschließen können. Hätte ich nach der
Promotion auf diesem Gebiet weiter wissenschaftlich gearbeitet und
Karriere gemacht, wäre ich vielleicht bis heute nicht in der Lage,
dieses Dogma in Frage zu stellen und ganz neue, andere Gedanken zu
denken. Das Paradigma der Zunft wäre Teil meiner Identität geworden und
ich hätte mich selbst aufgeben müssen, wenn ich es angezweifelt hätte.
Ich kann deshalb die Kollegen, die meine Sicht der Dinge für
schwachsinnig halten, gut verstehen, fast wäre ich einer von ihnen
geworden. Der große Physiker Max Planck hat uns deshalb ja auch darauf
hingewiesen, dass sich eine neue wissenschaftliche Wahrheit nicht
durchsetzt, weil die Verfechter der alten Wahrheit überzeugt werden,
sondern erst, nachdem die Verfechter der alten Wahrheit ausgestorben
sind. Wenn wir in diesem Fall so lange warten wollten, würde der Planet
die Menschheit bis dahin abgeschüttelt haben, und wie wir jetzt wissen,
kommt ihm die Sonne dabei zu Hilfe.
Alle
Religionen haben den Zins verboten, wirklich alle. Der Ökonom in mir
sagt, dass das wegen der verheerenden Auswirkungen des Zinseszinses zwar
richtig ist, aber nicht funktioniert: Wenn wir etwas verbieten, was die
Menschen tun wollen, tun viele es heimlich. Wenn wir den Zins
verbieten, bildet sich ein Schwarzmarkt mit reduzierter
Rechtssicherheit, wo eben doch Geld gegen Zins verliehen wird. Wir
brauchen einen Mechanismus, der das Problem marktkonform löst.
Ihnen
schwebt als Alternative zum derzeitigen Geld vor, es durch „fließendes
Geld“ mit einer „Demurrage“ zu ersetzen. Was muss man sich darunter
vorstellen?
Wenn wir keinen
Zins und keine Inflation wollen, brauchen wir einen anderen
Mechanismus, der Geldvermögen wieder in den Kreislauf lockt, so dass sie
als Kredit dort zur Verfügung stehen und rentabel eingesetzt werden
können, wo sie für Investitionen gebraucht werden. Dieser Mechanismus
ist die „Demurrage“. So heißt auf französisch und auf englisch die
Liegegebühr für Schiffe im Hafen. Sie sorgt dafür, dass die Schiffe
schnell ent- und beladen werden und weiter fahren. Und hier ist es eine
Parkgebühr für Geld:
Die Zentralbank
muss nur eine kleine Stellschraube betätigen und von den
Geschäftsbanken verlangen, dass sie eine Gebühr auf die Giroguthaben
abführen – quasi eine Geldsteuer. Diese Gebühr wird gestaffelt
niedriger, wenn das Geld festgelegt wird und sie entfällt, wenn es
langfristig angelegt ist. Im Bargeld gibt z. B. ein Chip oder ein
Magnetstreifen darüber Auskunft, bis wann der Schein noch den
Nominalbetrag wert ist und wann welche Gebühr zu entrichten ist, damit
er ohne „Disagio“ angenommen werden kann. Die Lesegeräte hierfür – die
Sicherheitsprüfgeräte bei der Bank – können dann bei jedem Einzelhändler
stehen und sie ließen sich auch in unsere Mobiltelefone integrieren.
Diese Gebühr wird von der Zentralbank so festgelegt, dass sich der Zins
auf dem Markt auf Null einpendelt. Wie die Bank ihre Kosten deckt – ob
über Gebühren auf Einlagen und/oder auf Kredite – wird der Markt
entscheiden.
Warum muss „gehortetes Geld“ an Wert verlieren, wohingegen „fließendes Geld“ vor Wertverlust geschützt ist?
Das
liquide Geld (auf dem Konto oder in bar) verliert nicht an Wert. Im
Gegenteil: die Zentralbank kann sich jetzt eine Inflation von Null
leisten, so dass das Geld absolut wertbeständig ist. Wer aber Geld hat,
wird bestrebt sein, die Gebühr nicht zu zahlen. Dazu gibt es drei
Möglichkeiten:
- es ausgeben (für Konsumgüter oder für Investitionen),
- es anlegen (die Banken und Versicherungen werden die Angebote dafür entwickeln),
- es verschenken.
In
jedem dieser Fälle fließt es weiter, deshalb auch „fließendes Geld“.
Der Geldumlauf verstetigt sich und die Geldmengensteuerung der
Zentralbank greift endlich.
Welche Änderungen müssten im Bankensystem vorgenommen werden, um „fließendes Geld“ einzuführen?
Für
die Banken ändern sich nur die Rahmenbedingungen für das klassische
Bankgeschäft (Ersparnisse einsammeln und Kredite vergeben), sonst
nichts. Sie müssen ihre Angebote an diese neuen Rahmenbedingungen
anpassen, die von der Zentralbank vorgegeben werden.
Was blühte einem Staat, der zum bisherigen System „Adieu“ sagte, um fortan „fließendes Geld“ zu benutzen?
Nach
einer Überganszeit können die Unternehmen ihre Investitionen zinsfrei
finanzieren und auch der Staat kann – wenn er es dann noch will – bei
seinen Bürgern zinsfrei Kredite aufnehmen. Das bedeutet in letzter
Konsequenz, dass die Umverteilung von unten nach oben über die
Zinsanteile in den Preisen beendet ist und die Bevölkerung zum heutigen
Preisniveau die doppelte Kaufkraft hat. Ein großer Teil der Anpassung an
die Rahmenbedingungen wird aber wohl auch über erhöhte Arbeitsentgelte
(Löhne und Gehälter) erfolgen. Leistungslose Einkommen gibt es nicht
mehr. Reichtum kann ausschließlich durch Arbeit erschaffen werden, Geld
vermehrt sich nicht mehr „von selbst“ – und das heißt ja schließlich:
durch die Arbeit von anderen.
Viele
Leute sind mit ihren bisherigen Lebensstandard zufrieden, wenn er durch
langfristig stabile Verhältnisse abgesichert ist. Sie werden die
doppelte Kaufkraft gar nicht brauchen oder haben wollen und lieber die
Hälfte arbeiten. Wenn die Zahl derer so groß ist wie die Zahl der
Arbeitslosen, ist das Problem der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit
statistisch gelöst. Wahrscheinlich sinkt das Angebot an Arbeitsleistung,
so dass die Unternehmen ihre Mitarbeiter besser bezahlen müssen, um sie
zu halten.
Gibt es für dieses „fließende Geld“ erfolgreiche historische Vorbilder??
Ja,
im frühen Mitteleuropa, etwa von 1150 bis 1450 hat es in ganz
Mitteleuropa fließendes Geld gegeben. Die Münzen der damaligen Zeit
(Brakteaten) waren aus dünnem Blech, dem das Konterfei des jeweiligen
Fürsten und die Jahreszahl ihrer Gültigkeit aufgeprägt waren. Am Ende
des Jahres mussten sie gegen die im neuen Jahr gültigen Münzen
umgetauscht werden. Bei diesem Umtausch behielt der Herrscher 20 Prozent
ein. Das war die einzige Steuer, mit der er den Staatshaushalt
finanzierte, seine Schlösser baute, die Bediensteten bezahlte und das
Militär unterhielt.
Die reichen
mittelständischen Unternehmer dieser Zeit waren Handwerksmeister, und
sie waren wenig geneigt, mit dem „Schlagsatz“ (so hieß die Demurrage
damals) das Luxusleben ihres Herrschers zu finanzieren. Und so
investierten sie ihr Geld in ihr eigenes Luxusleben: prachtvolle
Fachwerkhäuser, die wir heute noch in unseren mittelalterlichen Städten
bewundern können. Nach der Bauzeit für ein solches Haus (ich schätze um
die zehn Jahre) haben sie weiter viel Geld verdient, mit dem sie den
Fürsten nicht unterstützen wollten. Was konnten sie damit anfangen?
Mietshäuser gab es damals nicht, nur Häuser für den eigenen Bedarf. Und
so spendeten sie es der Kirche, in der Erwartung nicht nur hier auf
Erden, sondern hernach auch für die Seligkeit im Himmel alles getan zu
haben. Die Kirche wurde reich und baute mit diesem Reichtum die
eindrucksvollen Dome und Kathedralen, die wir an vielen Orten in
Mitteleuropa bestaunen können.
Nun
meinen Sie vielleicht, die Menschen müssten sich kaputt gearbeitet
haben, um diese Denkmäler zu erschaffen. Natürlich waren sie fleißig –
wir sind es ja heute auch. Aber sie hatten neben dem Sonntag den „blauen
Montag“ frei und darüber hinaus gab es über hundert kirchliche
Feiertage im Jahr. Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat das Leben an
den arbeitsfreien Tagen beschrieben: mit Tanz und Gesang, mit
Troubadouren und Geschichtenerzählern, mit Fress- und Saufgelagen. Er
hat die üppigen Met-, Wein- und Speisekarten ausführlich zitiert, da
läuft einem heute noch das Wasser im Munde zusammen.
In
diesen drei Jahrhunderten sind aus ärmlichen Fischerdörfern rund um die
Nord- und Ostsee reiche Hansestädte geworden. Und es war eine
friedliche Zeit ohne Krieg, weshalb sie der Geschichtsunterricht zu
meiner Schulzeit übersprungen hat. Da ist nichts passiert und
Geschichtsunterricht war Kriegsberichterstattung. Die Phase der
Hochkultur ging zu Ende, weil die Fürsten gierig geworden waren: Sie
haben die Demurrage von 20 auf 30 und mehr Prozent erhöht und die Münzen
dann nicht mehr für ein ganzes, sondern nur noch für ein halbes Jahr
ausgegeben. Ein solches Geld war nutzlos, die Leute haben es einfach
nicht mehr angenommen und sind zum Tauschhandel zurückgekehrt. Das war
schwierig und hat den Handel einbrechen lassen.
Die
Bevölkerung hat „richtiges Geld“ verlangt – Edelmetall – und es auch
bekommen. Der Joachimsthaler (später Thaler) aus den Silberbergwerken im
böhmischen Joachimsthal wurde geprägt, der Wert der Münze entsprach
ihrem Metallwert. Es gab auch Goldmünzen, bei denen der Prägestempel den
Materialwert bestätigte. Dieses Geld behielt jeder gern. Es war
werthaltig, brauchte nicht mehr ausgegeben zu werden und wurde gern „auf
die hohe Kante“ gelegt, die oberen Balken in den Fachwerkhäusern – ein
sicheres Versteck. So ist die Wirtschaft vollends zusammengebrochen. Die
folgenden Hungersnöte haben Kriege ausgelöst, in denen die Herrscher
die Ernte der Nachbarn erobern wollten. Es folgte die düstere Phase des
Mittelalters, die unser Bild dieser Zeit geprägt hat: Die rothaarigen
Frauen schienen an dem Elend schuld und wurden auf dem Scheiterhaufen
verbrannt. Der Ketzer wegen hatte Gott offenbar seinen Schutz
aufgekündigt; sie wurden gerädert – in Holzfässer gesteckt, in die von
außen lange Nägel getrieben waren und darin den Berg heruntergerollt.
Die Pest brach aus, die einen großen Teil der Bevölkerung hinwegraffte,
und der Dreißigjährige Krieg, in dem alles zerstört wurde.
Inwieweit
ist diese von Ihnen beschriebene Konzeption späterhin von dem
Nationalökonomen Silvio Gesell aufgenommen worden und welche Spuren
finden sich davon bei anderen Ökonomen, beispielsweise bei Irving Fisher
und John Maynard Keynes?
Vor
hundert Jahren hat Silvio Gesell die Funktionsweise fließenden Geldes
durchschaut und in einem umfangreichen Werk erklärt und veröffentlicht.
Er hat es „Freigeld“ genannt – weil es uns die Freiheit schenkt. Diesen
historischen Begriff halte ich heute für kontraproduktiv. Es gibt kein
Freibier, niemand bekommt etwas geschenkt, es muss alles erarbeitet
werden. Fließendes Geld ist der moderne Begriff dafür und er deutet an,
dass dieses Geld in der Wirtschaft die Funktion erfüllt, die das Blut in
unserem Körper und das Wasser in der Natur hat: Zu fließen und so das
Leben zu erhalten. Wenn unser Blut nicht mehr fließt, sind wir tot. Wenn
das Wasser nicht mehr fließt, stirbt die Natur, zu der auch wir
Menschen gehören.
Die bedeutenden
Ökonomen John Maynard Keynes und Irving Fisher haben Gesells Werk
anerkannt und verstanden (Fisher besonders in seinem Spätwerk „100%
Money“), aber die Zeit für die Umsetzung von Gesells Konzepten war nicht
reif. Die Gegenkräfte haben sich durchgesetzt und viele Kriege seitdem
sind die historische Konsequenz.
Auch
heute gibt es einige namhafte Ökonomen, die verstanden haben, dass wir
eine Demurrage brauchen, um aus der Krise herauszukommen: Willem H.
Buiter von der London School of Economics z. B. hat in einem Beitrag für die Financial Times
die Abschaffung des Papiergeldes gefordert, weil die Zentralbanken so
die Möglichkeit bekämen, den Nominalzins unter null zu drücken. Der
Havard-Professor Greg Mankiw hat einen Negativzins gefordert und die
schwedische Reichsbank Sveriges Riksbank hat in einer weltweiten
Premiere in 2009 die Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank
mit einem Satz unter Null „verzinst“. Das deutsche Handelsblatt
präsentiert am 18. Mai 2009 die Schlagzeile: "Das Undenkbare denken -
Negative Leitzinsen gelten als nicht möglich - prominente Ökonomen
fordern sie trotzdem“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt am
29. April 2009: "Federal Reserve hält Leitzins von minus 5 Prozent für
angemessen - Amerikas Geldpolitik stößt an ihre Grenzen ...ein negativer
Leitzins von 5 Prozent würde bedeuten, dass sich die Geschäftsbanken
von der Fed Geld leihen könnten, beispielsweise 100 Dollar, und später
nur 95 Doller zurückbezahlen müssten. Sie hätten aber keinen Anreiz,
ihrerseits zum negativen Zins Kredite zu vergeben, weil Geldhaltung – z.
B. unter der Matratze – null Prozent abwirft“.
Inwiefern könnte „fließendes Geld“ das errichten, was Sie „Fairconomy“ nennen?
Fließendes
Geld vermehrt sich nicht mehr „von selbst“ – und das bedeutet ja: nicht
mehr durch die Arbeit von anderen. Wer reich werden will, muss entweder
selbst mehr arbeiten oder eine höhere Vergütung für seine Arbeit
durchsetzen können. Wo Reichtum nur noch durch Arbeit entsteht und nicht
mehr durch eine Finanzindustrie, die nichts erschafft, sondern im
Gegenteil oft das Erschaffene zerstört (wir könnten auch sagen „raubt“),
hat das wundersame Konsequenzen:
- Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich nicht noch weiter, sondern schließt sich sehr langsam sogar wieder. Wir erhalten nach und nach eine ausgewogene und faire Einkommens- und Vermögensverteilung, die die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Menschen spiegelt. Das ist fair.
- Spekulation kann sich allenfalls als eine Schaumkrone auf den Wellen des Meeres halten – eines Meeres von real wirtschaftenden Menschen und Unternehmen, die den Reichtum erhalten und vermehren, von dem alle Menschen profitieren wollen. Das ist vernünftiges Haushalten (oikos nomos, was Ökonomie auf Griechisch bedeutet).
- Hohe Einkommensunterschiede destabilisieren nicht länger die Nachfrage. Damit gehört das Auf und Ab von Konjunkturschwankungen der Geschichte an. Die Wirtschaft entwickelt sich stetig und gleichmäßig.
- Die neue Geld- und Finanzordnung macht plötzlich langfristige Investitionen rentabel. Das hat zur Folge, dass Unternehmen für die Zerstörung der Umwelt von den Finanzmärkten nicht mehr belohnt werden (wie es jetzt noch der Fall ist). Nachhaltiges Wirtschaften lohnt sich plötzlich und setzt sich deshalb durch.
- Kriege zur Erhaltung des „Systems“ sind unnötig und werden deshalb auch weitgehend verschwinden. Wir können einer anhaltenden Friedenphase entgegen sehen, in der es der Menschheit gelingen kann, den wunderschönen Planeten Erde in das zu verwandeln, als das er erschaffen worden ist: Ein Paradies für zehn Milliarden Menschen.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Professor Berger!
Noch
ein kleines „Nachwort“: Was ich hier dargelegt habe, finden Sie in
keiner Zeitung, in keiner Radio- oder Fernsehsendung. Alle Redaktionen
müssen gegenüber ihren Eigentümern oder großen Inserenten vorauseilenden
Gehorsam leisten und die einfache Lösung für eine Reform unserer Geld-
und Finanzordnung totschweigen, wenn sie ihren Arbeitsplatz nicht
riskieren wollen. Das können wir ihnen nicht verdenken. Deshalb ist das
Internet der einzige Weg, diese Ideen zu verbreiten. Nutzen Sie ihn.
Aber es gibt eine Ausnahme: Die Zeitschrift HUMANE WIRTSCHAFT (www.humanewirtschaft.de)
kommt ganz ohne Anzeigen aus, sie wird von einem Verein herausgegeben,
der von Spendern finanziert wird. Hier können Sie allgemein
verständliche Artikel von mir und meinen zahlreichen Mitstreitern lesen,
u. a. von habilitierten Professoren der Ökonomie und Mathematik, die
von der Presse auch totgeschwiegen werden.
Nochmals vielen Dank!
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